Wer das Arbeitszimmer des Schulleiters betritt, dem fällt sogleich ein prächtiger Wandbehang ins Auge. Über einer Sitzgruppe angebracht schmückt er eine Ecke des Raumes und bedeckt jeweils ein gutes Stück weit die aufeinander stoßenden Wände. Diese beachtenswerte Arbeit nun entstammt nicht etwa der Hand eines professionellen Künstlers, sondern ist Gemeinschaftsprodukt vieler Schülerinnen unserer Schule, die im Jahre 1956 ihr Werk der Schulgemeinde als Erinnerungsgeschenk gewidmet haben.
Laut Aussagen der damaligen Schülerinnen, wie sie sich einem Bericht aus dem Sonderheft zur Einweihung der Städt. Marienschule im Jahre 1956 entnehmen lassen, war der Fertigstellung des Wandteppichs eine lange und intensive Vorarbeit vorausgegangen.
Nachdem man sich auf das Thema "Berühmte Frauen" geeinigt hatte und übereingekommen war, den Typus Frau, also die zeitlose Gestalt des Weiblichen, künstlerisch zu realisieren, war jede Schülerin von Obertertia bis Oberprima darangegangen, eine Liste mit den Namen berühmter Frauen aufzustellen, beginnend mit der vorchristlichen Zeit und bis in die Gegenwart hineinlaufend. Nach sorgfältiger Prüfung wurden sodann 20 Frauen aus den zahlreichen Vorschlägen ausgewählt. Die beiden Höhepunkte sollten sein: Eva, die Mutter aller Lebendigen, und Maria, die Mutter des Herrn. Um diese beiden Pole sollten die übrigen Gestalten, Regentinnen, Philosophinnen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, Helferinnen der Menschheit gruppiert werden.
Nach dem Planen und Skizzieren, dem Färben und Malen der Stoffe wurde der Behang in Originalgröße auf Papier (5,40 x 1,50 m) in der Gesamtschau präsentiert und dieser Entwurf in sämtlichen Klassen lebhaft diskutiert. Anschließend stickten die Schülerinnen die Gestalten in Einzel- oder Gruppenarbeit, während die mittleren und unteren Klassen Kordeln in den verschiedensten Farben und Stärken in vielen Metern knüpften und auch die Einteilung der Grundfläche und den Schriftsockel ausführten. Den Abschluss bildete das Aufarbeiten der fertig gestellten Figuren auf die Stoffgrundfläche.
Doch nun zu einigen der dargestellten Persönlichkeiten, die unter acht leicht geschwungenen Bögen und zwischen schlanken Säulen stehen: Da mag zunächst die eindrucksvoll gestaltete, vom Symbol des Bösen halb umschlungene Figur der Eva auffallen, der die Schau der großen Seherin Hildegard von Bingen zugrunde liegen soll. Im benachbarten Feld ist nochmals der Unheilbringer, diesmal als vielköpfiger, feuriger Drache, zu sehen, interpretiert nach Apk. 12,9 und Joh. 8,44; darüber, gleichsam umzüngelt von den lodernden Mächten des Bösen, zwei der großen Frauengestalten unseres Jahrhunderts: Edith Stein und Sophie Scholl.
Der zweite Höhepunkt neben der Figur der Eva ist - wie schon erwähnt - die der Maria, welche, den Jesusknaben auf dem Arm und umgeben vom Strahlenkranz, in klassischer Anschauung ausgeführt wurde.
Eines der begrenzenden Bildfelder ist der vorchristlichen Zeit gewidmet. Sie ist vertreten durch die Darstellung der Moabiterin Ruth, der griechischen Priesterin Iphigenie und der ägyptischen Königin Nofretete. Die beiden Letzteren wurden von den jugendlichen Künstlerinnen nach eigenem Bekunden als Vertreterinnen zweier Welten, die sich formend auf unseren Kulturkreis auswirkten, begriffen.
Bei weiterer Betrachtung trifft der Blick auch auf eine Bistumsheilige, nämlich Thiadhild, erste Äbtissin von Freckenhorst. Sie ist Teil einer Dreiergruppe, vereint dargestellt mit der großen Seherin, Dichterin und Wissenschaftlerin Hildegard von Bingen und einer Schulschwester der Genossenschaft U.L.F., die zur Erinnerung an die Gründerin unserer Schule der Schar großer Frauen angereiht wurde. Zeichenhaft führt sie zwei Kinder an der Hand, das eine lernbegierig, das andere nur widerwillig folgend.
Des Weiteren wurde neben der Kaiserin Maria Theresia, Elisabeth von Thüringen und Jeanne d'Arc auch Mathilde als Verkörperung von erstrebenswerten Idealen erkannt, deren Abbild mit den genannten eine andere Bildfläche ziert. Offensichtlich ist die Aufnahme der Kaiserin Mathilde aus dem Hause Wittekind auf die Verbundenheit mit Bocholt durch die Königsmühle zurückzuführen.
Unter dem Zeichen einer besonderen sozialen Verbundenheit versammeln sich als beispielgebende Gestalten unseres Jahrhunderts die Gründerin eines evangelischen Frauenvereins für Armen- und Krankenpflege, Amalie Sieveking, und die Philanthropin Elsa Brandström, bekannt unter der Ehrenbezeichnung "Engel von Sibirien".
"Liest" man den Wandbehang wie die Zeile eines Buches, also von links nach rechts, so eröffnet eine Gruppe von vier Gestalten die Reihe der ausgewählten Großen: Madame Curie, Nobelpreisträgerin für Physik und Chemie, Entdeckerin des so manche Krankheit heilenden Radiums, steht neben der großen italienischen Schauspielerin Eleonore Duse und der westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Geehrt wurde aber auch das von einem engagierten Humanismus geprägte Lebenswerk der Künstlerin Käthe Kollwitz. Die Zeichnung in ihrer Hand soll an das Plakat erinnern, durch das sie deutschen Kindern im Ersten Weltkrieg die Quäkerspeisung verschaffte.
Was vor nunmehr nahezu 50 Jahren die Mädchen der Marienschule als Wegweisung mit dem von ihnen geschaffenen Wandbehang verbanden, ist sicherlich nach wie vor bedenkenswert:
"So sollen die auf unserem Bildteppich symbolisiert dargestellten Gestalten ihr Licht leuchten lassen vor uns, damit wir ihre Werke sehen und ihnen nacheifern."